Anfänge der Gemeinde Gottes in Pavlodar
Auszug aus den Lebenserinnerungen von Marietta Kern, die sie mit 75 Jahren niederschrieb

Nach vier Jahren Trudarmee kam ich als Einzige von 200 Mädchen frei. Das waren die Gebete meiner Mutter, die sehr krank war und meiner Schwester Violetta, die immer wieder Briefe um meine Freilassung an die Regierung schrieb und die sehr meiner Hilfe bedurften. Zum Abschied steckten mir die Mädchen Geld in meine Manteltasche, so dass ich nach Pawlodar, wohin die Meinigen unterdessen gezogen waren, fahren konnte.
Die Freude des Wiedersehens war unbeschreiblich groß!
Wohl war es nur ein kleines Zimmerchen, in dem wir wohnen konnten, mitsamt meiner Schwester Elmira mit Ehemann Eduard Rotfuß und deren zwei kleinen Kindern. Es standen nur zwei Sofas darin, die anderen mussten auf dem Boden schlafen, aber was tat´s? Die Freude, dass wir wieder vereint waren, überstrahlte jede Unbequemlichkeit, denn auch Elmira und Eduard kamen wohlbehütet aus der Trudarmee zurück, wo sie sehr hungern mussten.
Da bekam Eduard zwei Bauplätze am Rande der Stadt und so fingen wir an, Lehmziegel zu machen. Inzwischen bauten sich Elmira und Eduard eine Erdhütte und wohnten darin, um näher bei der Baustelle zu sein.
Es erwachte wieder der Wunsch, Versammlungen abzuhalten und so luden wir Br. Heinz Hoß ein, uns als Prediger zu dienen.
Als das Haus fertig war, konnten meine Mutter, Violetta, ich und mein Bruder Walter die eine Hälfte beziehen, in der anderen lebten Elmira und Eduard mit Kindern.
Im Herbst 1947 kam Br. Heinz mit Familie an, und bezog die leerstehende Erdhütte. Nun halfen wieder alle zusammen Lehmziegel zu machen, um für Br. Heinz ein Haus zu bauen. Bald standen die Wände, dann kam das Dach und die große Wohnung mit einem Saal für Versammlungen war fertig. Wie groß war die Freude, als wir alle zum ersten Mal unsere Knie beugen durften, und Gott loben und priesen. Es kamen immer mehr Deutsche dazu, denn es gab sonst keine deutschen Versammlungen.

Einmal, als Br. Heinz Hoß draußen am Zaun saß und ihn ausbesserte, kamen zwei Frauen – Schwester Link und Elvine Kern, und fragten, wo hier ein Pastor wohne. "Hier wohnt er, gab Br. Heinz zur Antwort und lud sie in sein Haus ein. Von da an kamen sie regelmäßig und besuchten alle Versammlungen, denn es gefiel ihnen sehr.
Elvine Kern brachte ihre Enkelkinder, Erhard und Lilli Kern mit ihrer Mutter mit. Erhard zog seinen Mantel nicht aus und setzte sich an die Tür, um wenn nötig, gleich wieder zu gehen. Aber er kam das nächste Mal wieder, setzte sich vorne hin und sang die herrlichen Lieder gleich mit. So kam es, dass er des Öfteren von einem Bruder in die Seite gestupst wurde, damit er nicht so laut "falsch" sang, denn er sang wirklich von Herzen kräftig mit. Später gab Violetta ihm Unterricht und erklärte die Noten, so dass man bald seinen schönen Tenor neben dem kräftigen Baß Eduards hören konnte. Meine Mutter Julie Grötzinger und Elmira sangen die erste Stimme, Violetta und ich die 2-te, so dass ein vierstimmiger Chor erklang. Immer mehr Menschen kamen, bald waren es bei 40.


Dann kam der 1. Februar 1948, den ich nie vergessen werde. Es war eine herrliche Erweckung, an einem Abend übergaben zehn Menschen ihr Leben dem Herrn. Darunter waren Erhard Kern, seine Schwester Lilli, Elvina Kern und ihre Tochter Ella und andere. Gottes Geist wirkte so handgreiflich, als eins nach dem anderen auf die Knie sank, dass man meinte, die Stätte bewegte sich und dann begann ein Loben und Danken. Wir sanken einander in die Arme und begrüßten die Neugeborenen. Solch große Freude habe ich selten in meinem Leben erlebt. Wie viele Gebete stiegen empor und dann kam es so überschwänglich groß, dass wir es kaum fassen konnten.
Aber Satan gefiel dieser Sieg nicht. Er begann mit aller Macht dagegen zu arbeiten. Er hetzte die kommunistische Partei auf uns, die verkleidete, geheime Agenten in die Versammlungen schickte. Ihr Oberster verkleidete sich als alte Frau, zog einen Rock an und ein Tuch, das tief ins Gesicht hing und setzte sich in die letzte Reihe. Von da aus fotografierte er alle, die vorne am Tisch saßen. Wir ahnten nichts davon.
Br. Heinz Hoß unternahm oft Missionsreisen nach Irtischsk, Prokopjevsk und andere Städte. So nahm er auch Erhard mit, der mit großem Eifer und Freude ein Zeugnis für seinen Herrn ablegte. Und so kam es einmal, dass die Versammlungen so segensreich verliefen, dass Br. Heinz sich gedrungen fühlte, noch länger zu bleiben um die Versammlungen fortzuführen. Erhard musste aber am Montag wieder zur Arbeit. Er arbeitete als Buchhalter im Städtischen Badehaus und hatte die Verantwortung für die Eintrittskarten, die er fest verschlossen hielt. Den Schlüssel aber hatte er bei sich. Wie sollte die Verwaltung der Banja Karten verkaufen, wenn er nicht zur Arbeit erschien? Es war eine große Glaubensprüfung für Erhard. Br. Heinz aber ermutigte ihn, doch ganz dem Herrn zu vertrauen und alles seiner Führung zu überlassen. Und sie erlebten eine sehr gesegnete Zeit, so dass Erhard später oft sagen konnte: "Der Herr segnete über Bitten und Verstehen." Als sie nach drei Tagen zurückkamen, war ein Bangen in seinem Herzen, wie die Sache wohl ausgehen wird und ob er wohl seine Arbeitsstelle verlieren würde. Da merkte er, dass die ganze Stadt im Dunkeln lag. Als er sich dem Stadtbad näherte, sah er, dass auch der Schornstein des Bades nicht rauchte und so sank sein Herz ganz tief. Vorsichtig fragte er einen Passanten, ob das Stadtbad heute geöffnet war, da bekam er zur Antwort: "Natürlich nicht, die Elektrizitätswerke streiken seit drei Tagen." Und siehe da, auf einmal gingen die Lichter an, und die ganze Stadt war hell erleuchtet, und der Streik war beendet. Das war eine wunderbare Gebetserhörung in seinem jungen Glaubensleben.


Am 7. November 1948 heirateten ich und Erhard Kern und bald darauf wurde uns befohlen, unsere Versammlungen zu schließen. Im Oktober 1951 wurde dann unser lieber Br. Heinz und meine liebe Schwester Violetta, die sehr aktiv im Gemeindeleben mitarbeitete, nach einer Hausdurchsuchung verhaftet. Es war für mich sehr schwer, ich konnte es fast nicht begreifen! Sie war doch gehbehindert, wie sollte das gehen? Jedoch wurden wir noch mehr geprüft. Nur etliche Monate später, im Januar 1952, an einem Sonntagmorgen saßen Erhard und ich im Bett und sangen das Lied "Wer will mit dem Heiland leiden?". Als wir gerade die 3. Strophe sangen, klopfe es ans Fenster und herein kamen Polizisten und fingen gleich mit einer Hausdurchsuchung an. Die Bibel konnte ich noch im Kochtopf verstecken, aber die Hefte mit christlichen Liedern, die Erhard mit seiner feinen Handschrift abschrieb, nahmen sie mit als Beweismaterial für antipolitische Propaganda.
Erhard war noch keine 27 Jahre alt, sehr lebensfroh, übersprudelnd vor Energie, mit guten Zukunftsperspektiven im irdischen wie auch im geistlichen, jung verheiratet und mit einem Töchterchen Juliane, die noch keine zwei Jahre alt war. Nun endete alles mit einem Schlag. Erhard, mein geliebter Mann, wurde einfach mitgenommen.
Ich lief noch schnell zu Elmira, denn auch Eduard wurde mitgenommen und verabschiedete sich von ihm. Wir standen noch lange am Tor und schauten nach, bis das Auto unseren Blicken entschwand. Elmira war sehr gefasst und sagte: "Der Herr hat es zugelassen. Er wird auch weiterhelfen!" Obwohl sie ihr viertes Kind erwartete, war sie ruhig im Herrn.
Nun wurde Elmira und ich oft herausgerufen ins NKWD. Hier sollten wir von ihnen verfasste Berichte über andere Menschen unterschreiben. Wir taten es nicht. Einmal wurde ich um 10 Uhr abends herausgerufen und bis 4 Uhr früh unter Druck gesetzt, für unseren Nachbarn Zeuge zu sein.
Acht Bogen schrieb Schibaew, der mich verhört hat auf, aber alles umsonst, denn ich unterschrieb nicht. Da las er mir alles vor, ich aber merkte, dass er manches ausließ. Ich bat ihn, er solle es mir zu lesen geben. Da wurde er sehr böse, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: "Du unterschreibst nicht, alle anderen aber haben unterschrieben. Du bist schlechter als alle anderen, wir können dich auch einsetzen". "Ihr habt Gewalt über mich, bitte tun Sie, was Sie für richtig halten" – antwortete ich. "Aber dein Kind, denkst du nicht daran? Du bist eine Rabenmutter!" "Nun, lieber will ich sitzen, als jemanden auf dem Gewissen haben!" Da lief er zornig weg. Sein Gehilfe kam herein und fragte: "Was haben sie getan! Schibaew ist krank geworden." Um mich einzuschüchtern, wurde durch das Schlüsselloch geschossen. Auf verschiedene Weise versuchte man mich zu zwingen, zu unterschreiben, worauf ich antwortete: "Ich habe in der Sowjetunion gelernt und nicht gewusst, dass man Unwahrheiten unterschreiben muss." Da ließen sie mich lange sitzen, erst um vier Uhr früh durfte ich gehen. Nicht einmal ein Gang zur Toilette war erlaubt.
Daheim waren beide Mütter noch auf und beteten. Sie dachten, ich sei jetzt auch festgenommen. Aber am Morgen um 10 Uhr musste ich wieder dort sein. Ich lief die 3 km hin und wieder fing die Quälerei an.
Das Zimmer war abgeteilt mit einer Wand und ich ahnte nicht, das hinter der Wand Br. Jacob Peters saß, wegen dem ich so geplagt wurde. Man wollte mich ihm gegenüber stellen, sobald ich unterschrieben hätte. Später, als er frei war, bedankte er sich bei mir. Er bekam aber doch 10 Jahre!
Meine Schwester Elmira, die in den letzten Tagen vor ihrer Geburt stand, musste auch oft kommen. Ich begleitete sie, auch sie sollte unterschreiben, tat es aber nicht. Da hörten wir, dass in Alma-Ata, wohin man unsere Ehemänner und andere Geschwister gebracht hat, das Urteil gefällt wurde – 25 Jahre Haft, das war ein großer Schlag für uns. Aber wir ließen die Hoffnung nicht sinken, haben wir doch einen großen Gott im Himmel. Es wurde in allen Gemeinden bekannt gemacht und viele heiße Gebete stiegen auf zum Throne Gottes.
Sechs Monate dauerten die Untersuchungen, Verhöre und Psycho-Terror.
Der Untersuchungsrichter wunderte sich oft, dass Erhard, obwohl er der jüngste war, so ruhig und immer gefasst war, denn der Friede Gottes erfüllte ihn und Jesus war ihm ganz nah. Und trotzdem wurde er mancher Folter ausgesetzt, wie z.B. das Zwangshemd. Der Brustkorb wurde stark eingepresst, man konnte kaum atmen und war dem Ersticken nahe. Besonders schlimm war für ihn die Einzelhaft. Kein Fenster, durch das man hinausschauen konnte, keine Unterhaltung und jede halbe Stunde kam der Wächter vorbei und klopfe mit dem Schlüsselbund an die eiserne Tür. Nur ein Buch durfte er haben, und so lernte er den ganzen Gedichtband auswendig. Nach einiger Zeit legte man ihm einen Bettnachbarn hinein. Von dem hat Erhard oft mit Schaudern erzählt, dass der Mann durchdringende Augen hatte und Tag und auch nachts sah er des Mannes Augen auf sich gerichtet. Es schien, dass dieser Mann niemals schlief. Er hatte viele Fragen und Erhard wusste, dass bei solchen Spitzeln die Nerven manchmal nicht aushielten und sie erwürgten die Gefangenen. Erhard musste sehr vorsichtig sein.
Große Kämpfe bereitete es ihm, als der Untersuchungsrichter ihm sagte, alle anderen hätten schon unterschrieben, nur er sei so stur. Es war eine harte Prüfung für sein junges Glaubensleben. Sollten die anderen Geschwister wirklich schwach geworden sein, untreu? Er beschloss aber für sich, niemals seinen Glauben zu verleugnen und eine Unterschrift zu setzen, auch wenn es ihm das Leben kosten würde. Ganz niedergeschlagen durch diese Nachricht, folgte er den Gang entlang dem Wächter, der ihn zum nächsten Verhör führte. Da, auf einmal kam Br. Heinz Hoß ihm entgegen in Begleitung seiner Wache und rief: "Preis dem Herrn, Bruder!" Das war Salböl für sein Herz, denn jetzt wusste Erhard, dass es nur ein weiterer Trick der Untersuchungsrichter war. Das erfüllte sein Herz mit überschwänglicher Freude, stärkte ihn und gab ihm Kraft, bis zum Ende geduldig alles zu ertragen. Als dann am Tag des Gerichts das Urteil verkündet war, und die Gefangenen den Gerichtssaal verlassen wollten, rief ein Mann ihnen zu: "Geschwister, Gott hat es noch nicht unterschrieben!"

Nun wurden auch wir zu Hause schwer geprüft. Laut dem Gericht sollten uns unsere Wohnungen genommen werden. Elmira weigerte sich mit vier kleinen Kindern auf die Straße zu gehen, da wurde sie einfach hinausgeworfen. Auch ich musste unser Haus in der Kalinina Str. 85 verlassen, dass wir nie wieder zurückbekamen (siehe Dokument) und zog zu meiner Schwiegermutter.
Von Erhard bekamen wir aus Dsheskasgan, wohin er ins Lager verschickt wurde, alle 6 Monate eine Karte, so dass wir wussten, das er lebt, aber sehr schwach war und hungern musste. Wie sollte ich aber helfen? Daheim zwei Mütter, Julchen und ich arbeitslos? Ich fand eine Arbeit, musste aber absagen, da ich in einem Restaurant bis 12 Uhr nachts Klavier spielen sollte. Dann aber segnete der Herr wunderbar. Zu uns ins Haus kam eine Frau und bat, ich solle im Sanatorium für lungenschwache Kinder spielen. Mein Gehalt war 170 Rubel. Nun aber wollte ich doch Erhard so gerne helfen und bat meinen großen Gott es mir doch zu ermöglichen. Und welch handgreifliche Erhörung! Meine Chefin verlangte meine Zeugnisse vom Musikkonservatorium und sagte anschließend, ich bekomme zu wenig und erhöhte mein Gehalt auf 350 Rubel. Welch eine Freude, nun konnte ich Erhard Lebensmittelsendungen und Geld schicken. Gott hatte einfach das Herz der Chefin gelenkt, Ihm sei alle Ehre dafür!

Bald kam der Frühling und Worobjew vom NKWD sagte zu mir, ich müsse nach Prokopjewsk fahren und eine Liste Br. Alfred Lamparter und Br. Robert Brose übergeben, die sie ausfüllen sollten. So wollte man auch sie überführen um sie ins Gefängnis zu bringen. Worobjew hatte mich schon von der Arbeit abgefragt und eine Fahrkarte für den 5. März besorgt. Welche Seelenkämpfe! Meine Schwester Elmira tröstete mich und sagte zu mir: "Befiel dem Herrn deine Wege und hoffe auf Ihn, Er wird’s wohl machen."
Ich konnte es im Glauben fassen und staunte dann, auf welch seltsame Art der Herr geholfen hat. Es war am 3. März, als ich vom Sanatorium spät abends im Dunkeln heimging, fiel ich plötzlich in ein tiefes Loch hinein, das ein Kasache gegraben hat, um sein Haus mit Lehm frisch zu verputzen. Es war eng und lang, wie ein Grab. Als ich mich aufrichtete, schmerzte mir der Fuß sehr. Nur mit Mühe konnte ich mich aus dem Loch befreien und nach Hause hüpfen. Mein Knöchel war gebrochen und ich bekam einen Gips, welch ein Glück für mich, denn nun brauchte ich nicht zu fahren und wurde auch nicht wieder vom NKWD bedrängt!
Der liebe Erhard schickte mir ein Visum, dass ich ihn besuchen konnte. So fuhr ich mit Julchen in die Wüste nach Dsheskasgan. Die Wiedersehensfreude war groß, obwohl ich ihn kaum erkannte: Mager, ohne seine schönen Haare, auf dem Rücken eine Nummer! Er erzählte von wunderbaren Bewahrungen im Lager. Das Leben da war so gefährlich, dass er jede Minute bereit sein musste, zu sterben. "Ich fühlte mich, wie in Abrahams Schoß" – sagte er oft.

Wohl nie im Leben würde er dieses seltsame Geräusch, das laute Krachen vergessen, als man einem Mitgefangenen den Kopf abschlug und er einfach weiterlief.
Erhard erzählte auch von einem großen Aufstand, der durch Panzer und Artillerie zu unterdrücken versucht wurde. Mit einigen Brüdern traf sich Erhard im Keller um für Bewahrung ihres Lebens zu beten, denn die Aufstände der Gefangenen wurden durch Soldaten, die keine Gnade kannten, unterbunden. Sie schossen ins Haus voller Leute, Erhard stand zum Glück zwischen den Fenstern. Und doch sprangen die Kugeln von den Betonwänden ab und trafen einen Gefangenen neben ihm. Er aber blieb verschont.
Viel lieber erzählte Erhard, wie sie auf kleine Zettel Bibelverse aufgeschrieben haben. Oft erinnerte sich jemand an einen halben Vers und ein anderer erinnerte sich plötzlich an die andere Hälfte des Bibelverses, wie groß war dann die Freude! Auf diese Weise konnten sie ganze Teile des Neuen Testaments aufschreiben. Später, als ein kleines Testament eingeschmuggelt werden konnte, trennten sie die Blätter vorsichtig auseinander und konnten sie so untereinander austauschen.

Im Lager ist Erhard durch seine schöne Handschrift der Gefängnisleitung aufgefallen, und als man erfuhr, dass er Buchhalter war, durfte er auch im Gefängnis als Buchhalter arbeiten.
Für sein gutes Betragen wurde ihm sogar Ausgang außerhalb des Lagers gestattet und zu seiner großen Freude durfte er seine Frau zu sich kommen lassen.
Und so konnte ich mit Julchen reisen. Drei Kilometer vom Lager entfernt mietete Erhard ein Zimmer bei einer lieben alten Frau. Hierher kam er dann zum Abendessen, bei Einbruch der Dunkelheit musste er aber im Lager sein. Wie oft wurde er im Dunkeln verfolgt und musste um sein Leben rennen. Ich verdiente meinen Unterhalt mit Klavierstunden, denn ich hatte acht Klavierschüler, Kinder der Ingenieure der Kohleschächte.
Unser Glück wäre vollkommen, wenn nicht der KGB schon wieder an uns herantrat. Gleich zu Anfang wurde ich herausgerufen und sollte als Geheimagentin arbeiten, doch ich sagte mich ab. Erhard wurde auch gefragt, hat aber auch entschieden abgelehnt. Zur Strafe bekamen wir die versprochene Wohnung nicht. Erhard musste weiterhin im Lager leben und kam nur zur Mahlzeit nach Hause. Über die Feiertage und am Wochenende durfte er nicht bei uns bleiben.

Nun kam es aber noch schlimmer. Eines Tages kamen zwei Männer und nahmen mich mit. Sie führten mich sehr weit zu einem Berg in eine Höhle. Ich wusste nicht, was auf mich zukam. Die Höhle war sehr groß und ganz leer, nur mittendrin lag ein großer Stein. Ich setzte mich auf diesen Stein und musste weinen, denn ich war völlig erschöpft, voller Angst und am Ende meiner Kräfte, war ich doch in der letzten Hälfte der Schwangerschaft mit unserem zweiten Kind. Zu den Männern sagte ich: "Ich bin nur eine schwache Frau, bin schwanger und kann ihnen nicht viel nützen als Agentin." Durch Gottes Gnade hatten sie Erbarmen mit mir und ich durfte wieder gehen und wurde vor Schlimmerem bewahrt!
Eines Tages lag ich krank im Bett mit starken Kopfschmerzen und fühlte mich sehr unwohl, da kam Erhard ganz gebeugt und traurig. Er nahm sein Köfferchen mit Kleidern und verabschiedete sich von uns. Zur Strafe wurde er 100km weiter in ein anderes Lager geschickt. Er sagte, lieber solle ich heimfahren mit Julchen, aber für den KGB würde er nicht arbeiten. Wir beteten zusammen und legten alles in Gottes Hände. Als er fortging, standen wir noch lange am Zaun und sahen ihm nach. Da setzte er sich auf´s Köfferchen und weinte bitterlich, dann winkte er uns nochmals zu und ging den Hügel hinunter. Sein Herz war schwer. "Warum hab ich sie kommen lassen! Und nun muss ich sie allein und krank an solch einem gefährlichen Ort zurücklassen!"

Ich musste mich legen, nahm meine Bibel zur Hand und bat: "Lieber Herr, tröste mich doch durch dein Wort" und schlug die Bibel auf. Da stand im Hebr. 5,16 "Darum lasset uns hinzutreten, mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf das wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden für die Zeit, wenn uns Hilfe not sein wird!" Diese Worte ermutigten mich sehr.
Nach einer Zeit kam plötzlich Julchen angelaufen und schrie: "Papa kommt wieder!" Und richtig, da war er auch schon, warf sich neben mich nieder und wir weinten Freudentränen. Dann erzählte er, sein Oberster, ein sehr grober Mensch, rief einen Namen nach dem anderen auf, die sich dann auf den Lastwagen setzten. Erhard saß daneben auf seinem Koffer und betete leise inbrünstig zu Gott. Er hörte ein Auto davonfahren und nach einer Zeit hörte er das aufheulen des Motors, und der zweite Wagen fuhr davon. Er sprang auf, hörte er doch seinen Namen nicht ausrufen. Er sah sich um, da war er ganz allein übrig geblieben. "Und ich?", rief er, "Du gehst nach Hause", hieß es.
Gott hatte diesem groben Menschen das Herz gelenkt. Wie gut ist doch unser Gott! Es wurde ihm noch gesagt: "Euer Leben lang dürft ihr von hier nicht fort. Da kauften wir uns manches ein und sagten uns, wenn wir nur beieinander bleiben dürfen, dann sind wir zufrieden.
Doch siehe da! Es wurde so langsam laut, dass eine Amnestie kommen sollte. Und richtig, eines Tages kam Erhard in großer Eile und verlangte nach seinem besten Anzug, denn eine Kommission wurde bei ihnen erwartet. Er lief davon und wieder standen wir am Zäunchen und sahen ihm nach. Ein paar Stunden später sahen wir ihn, in der Ferne auftauchen; er winkte mit der Hand und lief so schnell er nur konnte. Julchen lief ihm entgegen, da hob er sie hoch in die Luft: "Ich bin kein Gefangener mehr. Ich bin frei!" Er hielt mir zwei Fahrkarten vor die Augen. "Wir fahren heim! Welch ein Wunder Gottes " – erzählte er.

"In dieser Kommission war mein ehemaliger Chef, der sehr gut zu mir gesinnt war. Er erkannte mich sofort und rief: "Du auch hier? Warum? Weil du ein Gläubiger bist? Dummheiten! Willst nach Hause? Nun also, hier" – Er selber schrieb die Entlassungspapiere und händigte mir die Fahrkarten aus mit den Worten: "Glückliche Reise!"
Er war entlassen, oh welch eine Freude! Es war der 21. Juni 1956.
Nur zwei Gefangene durften nach Hause, alle anderen mussten noch ein Jahr warten, bis das Gesetz in Kraft getreten ist.



Wer will mit dem Heiland leiden?

Wer will mit dem Heiland leiden? Wer nimmt´s Kreuz und trägt´s ihm nach?
Wer, bis Leib und Seel´ sich scheiden, bleibt getreu trotz Hohn und Schmach?

Refr: Herr, wir schätzen hoch dein Leiden, freuen uns in Leid und Not,
wenn um deines Namens willen wir erlitten selbst den Tod.

Wer will opfern Leib und Seele auf dem Altar unsers Herrn;
Sich verleugnen, los von allem, folgen Jesu Christo gern?

Wer will um des Wortes willen außerhalb des Lagers gehn;
Wie die Märtyrer vor alters auch die Feuerprob´ bestehn?

Nicht zum Herrschen nur, oh Glieder Christi, ihr berufen seid,
sondern auch mit ihm zu gehen durch Verfolgung, Angst und Leid.

Bald der Kampf zum Ende kommet und dem Sieger wird die Kron´.
Vorwärts, Bruder, wirkt und leidet; dort am Ziele winkt der Lohn!